Im letzten Kapitel komme ich wieder zur Machtfrage. Wer hat die Macht, wenn alles zusammenzubrechen droht? Menschen, (Natur-) Gewalten, Seuchen – oder Gott? Im Zentrum steht damit das Thema der Allmacht Gottes. Das Nachdenken darüber erfordert eine gewisse Gratwanderung. Gehen wir grundsätzlich von der Allmacht Gottes aus, so müssen wir uns rückfragen lassen: Warum lässt er dann Seuchen, Katastrophen, Kriege und Gewalttaten zu? Andererseits können wir auf die Allmacht Gottes nicht verzichten, denn sonst wäre Gott nicht Gott. Zwei Wege führen uns weiter: Zum einen ist Gott nicht nur allmächtig, sondern er wird von den Glaubenden auch ohnmächtig erfahren. Die Hinwendung Jesu zu Kranken und gesellschaftlich Ausgesonderten sowie die Erzählungen von Leiden und Tod Jesu sind daher für unseren Glauben zentrale Elemente.
Zum anderen dürfen wir die Rede von der Allmacht Gottes nicht als Tatsachenbeschreibung verstehen. Allmacht Gottes weist auf das Ende der Welt hin, sie ist ein Teil unseres Bekenntnisses („Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen …“). Darauf weist W.H. Ritter hin. Wenn in biblischer Zeit oder auch später menschliche Mächte, Katastrophen, Pandemien so lebensbedrohlich wurden, dass man nicht mehr ein noch aus wusste, dann erwies sich der Ruf zu dem allmächtigen Gott als wichtige Überlebensstrategie. Betend, bittend, jetzt schon ihn lobend, schreiend, klagend entwickelte sich im Gebet Kraft und Hoffnung; das Vertrauen darauf: Gott ist inmitten allem Bedrohlichen und Übermächtigen der, der Bestand hat und die Mächte in ihre Schranken weist. Ritter stellt fest: „Das kann Angst nehmen oder reduzieren, Hoffnung schenken und Mut zum Widerstand ermöglichen.“
Diese Rede von der Allmacht und der Ohnmacht Gottes bewahrt uns davor, auf andere Mächte zu setzen und Gefahr laufen, daran zu zerbrechen. Die neuzeitlichen Wissenschaften haben ebenfalls eine machtförmige Struktur. Ihr Ziel ist, letztendlich alles zu können und zu erklären, bislang nicht Beherrschbares zu beherrschen und sich dabei auch über ethische Normen hinwegzusetzen. Dies sind Allmachtsphantasien. Immer wieder musste die Menschheit einen hohen Preis für diese Überheblichkeit bezahlen. Vielmehr führt es weiter, die wissenschaftliche Vernunft und aktuell die medizinische Kompetenz als Gaben des Geistes Gottes zu verstehen. So war für Luther klar, dass Gott die „Arzenei geschaffen“ und die „Vernunft gegeben“ habe. Statt wissenschaftlichen Allmachtsphantasien nachzuhängen stellt sich so die Wissenschaft in den Dienst für die Menschheit.
Wahrhaftigkeit und kritisch prüfender christlicher Glaube durchschaut die Machtphantasien hinter den Verschwörungstheorien. Christlicher Glaube schützt vor einfach klingenden Erklärungen komplexer Zusammenhänge. Er weigert sich, bestimmten Personen oder Minderheiten Schuld an allem zuzuweisen.
Der Glaube an die Menschlichkeit und Leidensfähigkeit Gottes in Jesus Christus macht Christinnen und Christen Mut, Menschen angesichts von Pandemien und Katastrophen zur Seite zu stehen, auch unter dem Einsatz des eigenen Lebens. Dabei fühlen sie sich getragen von der Hoffnung, dass die Vorläufigkeit allen irdischen Lebens, dass Leid und Tod einmal für immer aufgehoben sein wird in einer ganz neuen Wirklichkeit.
Wolfgang K. Leuschner, März 2021
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