Im Münchner Merkur war am 15. April zu lesen: „Bildungsforscher gehen von lebenslangen Wissensverlusten infolge von Schulschließungen aus.“ Ludger Wößmann, Bildungsökonom am Ifo-Institut, berief sich dabei auf eine Studie aus den Niederlanden, auf die Folgen eines monatelangen Lehrerstreiks im belgischen Wallonien in den 1980er Jahren und auf die beiden Kurzschuljahre in Deutschland in den 1960er Jahren. Diese Erfahrungen aus der Vergangenheit hätten „zu dauerhaft niedrigen Kompetenzwerten der Betroffenen geführt“, so dieser Artikel.
Ich bin einer derjenigen, die die Kurzschuljahre im Gymnasium miterlebt haben. Für mich und auch für meine damaligen Klassenkameradinnen und -kameraden kann ich sagen: Wir mögen zwar in den Kurzschuljahren gewisse Wissensverluste gegenüber älteren Mitschülern gehabt haben, doch dass dies zu „dauerhaft niedrigeren Kompetenzwerten“ geführt haben soll, kann ich nicht nachvollziehen. Als schwacher Mathematiker hätte ich mit und ohne Kurzschuljahre die Inhaltsberechnung eines Fasses im Abitur nicht zuwege gebracht und in Musik und mit meiner Oboe war ich so oder so ein Ass. Wir alle haben es zu ansehnlichen Berufen gebracht: Arzte, Pfarrer, Lehrkräfte und leitende Angestellte in Behörden und in der Wirtschaft. Wissensverluste kann man ausgleichen oder nachholen.
Weniger Kompetenzen?
Der Begriff des Kompetenzerwerbs war vor 50 Jahren noch in keinem Lehrplan explizit ausgeführt. Doch unsere Generation hat sich Kompetenzen erworben, sei es in der Schule oder später im Beruf. Die Voraussetzung dazu war offensichtlich nicht die ausreichende Wissensvermittlung allein, sondern die bewusste Förderung durch unsere Lehrkräfte, die Weiterbildung im Beruf und vor allem die eigene Motivation, persönliche Stärken zu entdecken und zu nutzen. Besonders erwähnen will ich die erfolgreichen politischen Bemühungen der Siebziger Jahre, Kinder und Jugendliche aus unteren Einkommensschichten und aus der Landbevölkerung zu fördern.
Die Kriegsgeneration musste mit viel größeren Wissenseinbußen zurecht kommen. Sie machten das sogenannte „Notabitur“. Ich kenne niemand, der darunter gelitten hat, in seinem Leben mit weniger Schulwissen auskommen zu müssen. Ein viel größeres Problem dieser Generation war, die Drangsalierungen ihrer Väter auszuhalten, die mit unterdrückten traumatischen Erfahrungen aus Krieg und Gefangenschaft zurückgekehrt waren oder die gar vaterlos aufwachsen mussten. Ganz zu schweigen von den damals noch nicht aufgearbeiteten Folgen der Naziherrschaft.
Ich kenne viele Männer aus meiner Generation der jetzt Siebzig- und Achtzigjährigen, die oft nur den Hauptschulabschluss haben und eine Lehre machten. Viele von ihnen sind achtbare Handwerker, Meister in großen Betrieben oder leitende Angestellte in Handelsfirmen geworden. Ich gebe zu, dass es heute wie damals Menschen gibt, die nicht mit dem Lernen und mit dem Leben zurecht kommen. Wissensverluste aus Kurzschuljahren oder Schulschließungen wegen der Pandemie können deren Probleme verstärken, aber nicht auslösen. Zu ihrer Heilung braucht es andere Wege, als über Schulschließungen zu jammern.
Wer meinen Blog abonnieren möchte, bitte das Formular ausfüllen und abschicken. Vielen Dank.